Creeping Normality — Wie schleichende Normalisierung Unternehmenskulturen aushöhlt

Tag: Beitrag Veröffentlicht am: 24. Oktober 2023 Autor: Sarah Perlick

Ich bin vor einigen Wochen über ein soziologisches Konzept gestolpert, das mich nicht mehr losgelassen hat: Creeping Normality. Dieses Konzept beschreibt, wie zunächst inakzeptable, grundlegende Veränderungen in unserem Lebensstil allmählich akzeptabel werden, indem sie in inkrementellen, oft unbemerkten Schritten eingeführt werden. Im Laufe der Zeit verankern wir unsere Vorstellung von Normalität an immer aktuellen Referenzpunkten, normalisieren Veränderungen und delegitimieren oder vergessen die „alte Normalität“. So passiert beim Datenschutz, wo der Aufstieg sozialer Medien ein zuvor unvorstellbares Maß an öffentlicher Transparenz normalisiert hat, bei dem persönliche Geschichten, Fotos, Beziehungen, Emotionen und Netzwerke mit der Welt geteilt werden. 

Auch im Unternehmenskontext lässt sich das Konzept der “schleichenden Normalisierung” beobachten. Ein Beispiel: In einer Unternehmenskultur, die den Wert Respekt hochhält, fängt der CFO plötzlich an, Mitarbeitenden „lustige“ Spitznamen zu geben, die nicht immer schmeichelhaft sind. Anfangs mag dies harmlos erscheinen, so dass niemand dagegen einschreitet. Das Verhalten wird scheinbar als akzeptabel betrachtet. Doch allmählich fangen auch andere Mitarbeitende an, sich wenig(er) respektvoll gegenüber ihren Kolleg:innen zu verhalten. Und genau diese Entwicklung verdeutlicht, warum Creeping Normality im Unternehmenskontext von großer Bedeutung ist. 

Allzu oft werden kleine Unstimmigkeiten oder Abweichungen von den erklärten Werten als unbedeutend abgetan – “no big deal”. Die schleichende Normalisierung von solchen Verhaltensweisen führt jedoch dazu, dass die ursprüngliche Unternehmenskultur allmählich ausgehöhlt wird.

Die Konsequenzen können langfristig zu schwerwiegenden kulturellen Problemen führen. Eine Kultur, die auf Integrität aufgebaut ist, kann durch das schleichende Akzeptieren von unethischem Verhalten untergraben werden. Eine Kultur, die Vielfalt und Inklusion fördert, kann durch das unbemerkte Zulassen von Diskriminierung erodieren. Letztendlich kann Creeping Normality dazu führen, dass die deklarierten Werte eines Unternehmens nur noch leere Hüllen sind, die von niemandem ernst genommen werden.

Unternehmen sollten also wachsam sein, um kleine, sich langsam entwickelnde Veränderungen in der Unternehmenskultur aufspüren. Es ist wichtig, frühzeitig einzugreifen, um zu verhindern, dass diese Veränderungen mittel- bis langfristig die deklarierten Werte untergraben. Was können Unternehmen konkret tun?


Unsere Erfahrung zeigt, dass es dabei insbesondere drei Hebel gibt:

1. Klarheit über Kultur und Werte

Unternehmen müssen sicherzustellen, dass alle Mitarbeitenden die Werte des Unternehmens kennen, verstehen und in ihrem täglichen Handeln umsetzen. Dazu zählen eine Sichtbarkeit im Alltag, regelmäßige Kommunikation und Schulungen, die eine persönliche Reflektion und Auseinandersetzung erfordern.

2. Führungskräfte als Vorbilder

Führungskräfte spielen mit ihrer Vorbild-Funktion eine maßgebliche Rolle, denn gerade sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen und die Unternehmenswerte für ihre Mitarbeitenden im Arbeitsalltag erlebbar machen. Hier helfen neben der Führungskräfteentwicklung auch Führungsleitlinien – im Sinne von Klarheit, Orientierung und einer möglichst gemeinsam gelebten Führungshaltung.

3. Resiliente Feedbackkultur

Auch braucht es eine gewisse Offenheit der Kultur für Feedback. In Kulturen, in denen selbst konstruktives Feedback bestraft oder hierarchieübergreifendes Feedback unterbunden wird, wird der CFO wie im Beispiel oben weiter ohne Konsequenzen Spitznamen nutzen, auch wenn es eigentlich den Unternehmenswerten widerspricht. Sehr gut wurde die Wichtigkeit von Feedback in der Netflix-Dokumentation “The Downfall of Boeing” aufgezeigt.

Zusammengefasst: Eine starke Unternehmenskultur heute ist kein Garant für eine starke Unternehmenskultur morgen. Nur durch kontinuierliche Aufmerksamkeit, Reflektion und Handeln können Unternehmen sicherstellen, dass ihre Kultur stark und authentisch bleibt und nicht schleichend verloren geht.

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